Können Sie kurz die Asylverfahren von Anıl Kaya und Sinem Mut beschreiben, die von Deutschland an die Türkei ausgeliefert werden sollen? Was sind die neuesten Entwicklungen?
Vorangetrieben durch Horst Seehofer und das Bundesministerium des Innern (BMI) – dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) untersteht – hat inzwischen auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) die Ablehnung der Asylanträge und die angedrohte Abschiebung in die Folterkeller des faschistischen Erdoganregimes bestätigt.
Sinem Mut und Anil Kaya, die zwei bekannte progressive Oppositionelle sind, wurde das Asylrecht abgesprochen, weil nach Ansicht des BAMF und der Gerichte die Verurteilung wegen ihrer legalen politischen Aktivitäten für einen demokratischen Verband (DHF) „Terrorismus“ darstellen würde und ihre Verurteilung zu einer Haftstrafe von mehr als 6 Jahren, die in den berüchtigten F-Typ-Gefängnissen korrekt sei, die türkischen Gerichte korrekt vorgegangen seien und im übrigen in der Türkei auch keine Folter mehr droht. Diese Gerichtsentscheidungen und das Vorgehen des BMI/BAMF sind zutiefst reaktionär und verstoßen gegen das Asylrecht, wie es in der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem deutschen Grundgesetz niedergelegt ist. Dieses Vorgehen betrifft nicht nur die konkreten Fälle, sondern bedeutet eine weitergehende Verschärfung des Vorgehens insbesondere gegen die demokratischen, antifaschistischen und revolutionären Oppositionskräfte sowie die kurdische Freiheitsbewegung durch die deutsche Regierung und die Justiz. Das Erdoganregime ist zutiefst undemokratisch, es ist ein diktatorisches und faschistisches Regime, die Justiz ist nicht unabhängig und die Rechte von verhafteten und angeklagten Menschen werden mit den Füßen getreten. Es ist eine grobe Verdrehung der tatsächlichen Zustände in der Türkei.
Wir haben jetzt mit vielfältigen neuen Beweismitteln einen Asylfolgeantrag für die beiden gestellt. Beeindruckend ist auch, dass sich innerhalb kurzer Zeit eine intensive breite Solidarität entwickelt hat.
Warum will Deutschland Anıl und Sinem an die Türkei ausliefern? Wie beurteilen Sie als Anwalt dieses Thema im Hinblick auf die Akte?
Zwischen dem deutschen Imperialismus und dem faschistischen Erdoganregime besteht eine enge Zusammenarbeit, insbesondere auch was das gemeinsame Vorgehen gegen demokratische, antifaschistische, progressive und revolutionäre Kräfte und Personen betrifft. Wir sehen dies an den Verbotsverfahren – wie gegen die PKK -, welches ja mit Fahnenverboten oder zuletzt dem Verbot und die Kriminalisierung des Europakongresses des kurdischen europäischen Dachverbandes KCDK-E immer wieder neu in Erscheinung tritt und grundlegende demokratische Rechte und Freiheiten mit den Füßen tritt. Die letztliche Ursache ist der Antikommunismus, der zu diesen Kooperationen führt und wie hier das Ergebnis hat, dass eine Kämpferin auch für die Rechte der Frauen – wie Sinem Mut – auch durch ein deutsches Gericht zur „Terroristin“ abgestempelt wird und an das Erdoganregime ausgeliefert werden soll.
Was entspricht Deutschlands Auslieferungs- oder Ablehnungsanordnung im deutschen Recht? Was bedeutet das nach deutschem innerstaatlichem Recht bzw. EU-Schutzrecht?
Wie ich bereits sagte: Unserer Ansicht nach verstoßen das Vorgehen und die Entscheidungen gegen das durch internationales Recht (Genfer Konvention und EMRK) sowie die deutsche Verfassung gewährleistete Asylrecht. Sinem Mut und Anil Kaya sind politisch Verfolgte und keine Kriminellen, als die sie durch die Gerichte und das BMI/BAMF hingestellt werden. Ich bin jetzt seit über 40 Jahren als Anwalt und als revolutionärer Politiker im Zusammenhang mit dem Asylrecht tätig, wobei ein Schwerpunkt immer auch auf die Türkei/Kurdistan lag. Was hier seitens der Herrschenden beabsichtigt wird, ist eine Reinwaschung des Erdoganregimes mit der Folge, dass politisch Verfolgten aus der Türkei kein Asyl- und Schutzrecht mehr gewährt werden soll. Das richtet sich auch gegen die engere internationale Zusammenarbeit progressiver und revolutionärer Kräfte, wie sie international u.a. in der ICOR stattfindet oder in Deutschland im Internationalistischen Bündnis.
- Kennen Sie solche Fälle oft?Was bedeuten diese Entscheidungen für Menschen, die in Deutschland Asyl und Schutz beantragen?
Derartige Entscheidungen haben letztlich dramatische Auswirkungen für die Menschen konkret. Sie werden existentiell getroffen. Wir wissen, dass oppositionelle Kräfte in der Türkei gefoltert werden, wir wissen, dass die Zustände in den F-Typ- Gefängnissen katastrophal sind. Die Tatsache, dass die beiden in Kenntnis dieser tatsächlichen Verhältnisse in die Folterkeller abgeschoben werden sollen, bringt auch die tatsächliche Einstellung der Regierung – die ja immer gerne von der Wahrung von Menschenrechten spricht – in Deutschland zum Ausdruck.
Was bedeutet das „Recht auf freie Meinungsäußerung“, das durch Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und verschiedene internationale und regionale Konventionen gesetzlich geschützt ist? Begeht der deutsche Staat hier eine Straftat?
Wir leben in einem imperialistischen Staat. Wir dürfen deshalb auch keine Illusionen haben, dass uns Rechte und Freiheiten geschenkt werden. Auch für Revolutionäre ist der Kampf um bürgerlich-demokratische Rechte und Freiheiten deshalb eine grundlegende Aufgabe. Das gilt auch für das Asylrecht, wobei hier der Kampf um den Schutz von verfolgten Revolutionären eine ganz besondere Bedeutung hat. Konkret wird vorliegend aber auch gegen bestehendes internationales Völkerrecht und deutsches Recht mit den Entscheidungen in den Asylfällen von Sinem Mut und Anil Kaya verstoßen. Das muss natürlich auch deutlich gemacht werden. Das tun wir. In diesem Zusammenhang wird seitens der Verantwortlichen in Regierung, bei Behörden und in der Justiz faktisch auch eine Straftat begangen, wenn dazu beigetragen wird, politisch Verfolgte an ein Folterregime auszuliefern.
Könnten Sie sich kurz vorstellen?
Ich bin 68 Jahre, meine Frau stammt aus Dersim/Türkei-Kurdistan; 5 erwachsene Kinder; seit 41 Jahren bin ich als Rechtsanwalt mit Schwerpunkten im Asyl-/Migrationsrecht, Sozialrecht, Versammlungs- und Vereinsrecht sowie politischem Strafrecht tätig. Seit meinem 16 Lebensjahr (1969) bin ich in der revolutionären- und Arbeiterbewegung und dem marxistisch-leninistischen Parteiaufbau aktiv. Wegen meiner kommunistischen Gesinnung hatte ich Berufs- und Promotionsverbot erhalten und wurde aus der Gewerkschaft ausgeschlossen. Langjähriges ZK-Mitglied der MLPD. Wegen meiner revolutionären Einstellung und Tätigkeit wurden in den letzten Jahren eine Reihe von Strafverfahren eingeleitet, die aufgrund der Solidarität eingestellt wurden, bzw. ich freigesprochen wurde. Bei den Bundestagswahlen kandidiere ich für die MLPD/Internationalistische Liste.