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Es gibt sehr verdächtige Indizien

Sie waren kürzlich im Auftrag der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW zur Recherche im Nordirak. Worum ging es da genau?

Wir sollten Hinweisen auf den Einsatz von chemischen Kampfstoffen durch die türkische Armee gegen die Guerilla der PKK und die kurdische Zivilbevölkerung nachgehen. Damit hatte die IPPNW Deutschland mich und den Biologen Jan van Aken, ehemaliger UN-Experte für chemische und biologische Waffen sowie ehemaliger Bundestagsabgeordneter für Die Linke, beauftragt.

Wurden Sie von der kurdischen Regionalregierung in Erbil bei Ihrer Mission unterstützt?

Wir wurden vor Ort von der Demokratischen Partei Kurdistans – KDP, der um den Barsani-Clan gebildeten Regierungspartei – behindert. Sie verweigerte uns den Zugang zu der Region, in der die Chemiewaffeneinsätze Berichten zufolge stattgefunden haben. Der KDP-Gouverneur der Region Amedi untersagte uns zudem den Besuch bei einer Familie, bei der ein sehr konkreter Hinweis auf eine Intoxikation mit Yperit (Senfgas, jW) vorlag. Auch die Patriotische Union Kurdistans, PUK, die zweite »große« Regionalpartei, teilte uns in Person ihrer Vorsitzenden Shanaz Chan, die in der Zwischenzeit zu Iraks First Lady aufgestiegen ist, mit, sie könne uns bei unserer Aufgabe nicht behilflich sein.

Konnten Sie trotzdem Beweise oder Indizien finden, die die Berichte der kurdischen Bewegung über den vielfachen Einsatz unterschiedlicher chemischer Kampfstoffe der türkischen Armee bestätigen?

Ja, es gelang uns in zahlreichen Gesprächen, verschiedene wertvolle Indizien für den potentiellen Einsatz von chemischen Kampfstoffen durch die türkische Armee zusammenzutragen. Bei den verschiedenen Hinweisen auf den Einsatz von chemischen Kampfstoffen steht an vorderster Stelle eine Mitteilung des türkischen Kriegsministers Hulusi Akar vom 16. Februar 2021 an das türkische Parlament, in der er offiziell den Einsatz von Tränengas im Kampfeinsatz gegen die PKK bestätigt. Tränengas fällt im Kriegseinsatz jedoch unter das Chemiewaffenverbot. Nur der Polizei ist über eine Ausnahmeregelung sein Einsatz unter bestimmten Bedingungen erlaubt.

Auch der Fund einer Hülle eines BC-Waffenfilters zu einer Gasmaske erlaubt die naheliegende Vermutung, dass entsprechende Waffen zum Einsatz kamen. Schwarzer Rauch, den türkische Soldaten mittels eines Blasgeräts in eine PKK-Höhlenfestung einbringen, stellt ebenfalls eine klare Verletzung des Chemiewaffenverbots dar. Ob die im Kampfgebiet gefundenen großen, leeren Waschmittelbehälter aus einer türkischen Feldwaschküche stammen oder vielmehr ihr Inhalt zur Herstellung von Chloridgasen diente, können wir nicht abschließend beurteilen. Die letztgenannte Vermutung liegt jedoch nahe. Es gibt genug sehr verdächtige Indizien, welche dringend durch die kompetenten Stellen geklärt werden müssen.

Wer kontrolliert oder sanktioniert den Einsatz von Chemiewaffen?

Die Konvention über das Verbot von chemischen Waffen sieht vor, dass bei einem begründeten Verdacht auf Einsatz dieser verbotenen Kampfstoffe ein Unterzeichnerstaat dieser Konvention die Organisation zur Kontrolle des Verbots der Chemiewaffen, OPCW, in Den Haag oder das Generalsekretariat der Vereinten Nationen zu einer offiziellen Untersuchung auffordern kann, der stattgegeben werden muss und der sich niemand widersetzen kann. Nun wissen wir alle, dass der Verdacht der Kurden wohl mehr als begründet ist, das kurdische Volk aber über keinen eigenen Staat verfügt. Einen europäischen Staat zu finden, der sich mit der Türkei anlegen mag, dürfte wohl sehr schwierig sein.

Sehen Sie die Möglichkeit, das Verfahren zur Verhinderung und Kontrolle des Chemiewaffenverbots so zu ändern, dass betroffene Akteure auch jenseits geostrategischer Interessen von Staaten ihr Recht durchsetzen können?

Wir müssen dringend fordern, dass auch NGOs oder Völker, die durch keinen Staat vertreten sind, eine offizielle Untersuchung veranlassen können. Bis zu so einer Änderung – falls sie überhaupt je erfolgen sollte – muss sich ein Staat finden, der den Mut hat, der Türkei die Stirn zu bieten, um den Kurden zu ihrem Recht zu verhelfen und der grausamsten Schlächterei ein Ende zu setzen.

Quelle: JungeWelt