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Revolutionäre vor Gericht

In München läuft seit 16 Monaten ein Prozess gegen zehn Kommunisten aus der Türkei

„NSU / TKP ML“ weist ein Schild am Eingang des Oberlandesgerichts München in der Nymphenburger Straße auf einen mit Polizeigittern gesicherten Sondereingang hin. Ganz im Sinne des unwissenschaftlichen Extremismuskonstruktes des Verfassungsschutzes wird hier die faschistische Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU), auf deren Konto Morde an zehn zumeist türkeistämmigen Menschen gehen, mit einer revolutionären Partei aus der Türkei faktisch gleichgesetzt.
Seit Juni letzten Jahres stehen in demselben Hochsicherheitssaal, in dem sonst gegen Naziterroristin Beate Zschäpe verhandelt wird, zehn linke Aktivisten aus der Türkei unter Terrorismusanklage vor Gericht. Zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung im April 2015 lebten alle Angeklagten seit mindestens zehn Jahren mit legalem Aufenthaltsstatus in Europa. Die Mehrzahl von ihnen hatte nach Haft, Folter und Verfolgung in der Türkei politisches Asyl in Deutschland, Frankreich und der Schweiz erhalten. Zwei von ihnen, darunter die einzige angeklagte Frau Dilay Banu Büyükavci, waren praktizierende Ärzte in Nürnberg. Seit ihrer Verhaftung befinden sich die Angeklagten in Untersuchungshaft in verschiedenen bayerischen Haftanstalten.

Vorwurf: Führende Mitglieder der TKP/MLAlle Angeklagten engagierten sich in der Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK), einer migrantischen Selbstorganisation mit antifaschistischem und antiimperialistischem Selbstverständnis. Eine persönliche Beteiligung an Gewalttaten oder gar Morden wird ihnen nicht vorgeworfen. Vielmehr sollen sie führende Mitglieder der Kommunistischen Partei der Türkei / Marxisten-Leninisten (TKP/ML) im Ausland sein. Dafür drohen ihnen nun Haftstrafen von mindestens 4 ½ Jahren. Denn nach Ansicht der Generalbundesanwaltschaft handelt es sich bei der TKP/ML, die weder in Deutschland verboten ist noch auf der EU-Terrorliste geführt wird, um eine „terroristische Vereinigung im Ausland“ nach dem berüchtigten Strafrechtsparagraphen 129b. Dies ist auch die Auffassung der Bundesregierung, die bereits 2006 die für ein Ermittlungsverfahren nach diesen Paragraphen notwendige Verfolgungsermächtigung gegen die TKP/ML erteilt hatte.

TIKKO-Partisanen kämpfen gegen den IS

Die 1972 gegründete maoistische TKP/ML und ihr bewaffneter Arm, die Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee der Türkei (TIKKO), gingen aus der türkischen 68er-Studentenbewegung hervor. Von anderen Strömungen der Linken in der Türkei unterschied sich die Partei damals durch ihre klare Frontstellung zur kemalistischen Staatsideologie, die sie als faschistisch bezeichnete, sowie ihr Eintreten für das Selbstbestimmungsrecht der kurdischen Nation. Ihr bis heute als einer der Idole der revolutionären Linken in der Türkei verehrter Parteigründer Ibrahim Kaypakkaya wurde 1973 im Alter von nur 24 Jahren im Militärgefängnis von Diyarbakir zu Tode gefoltert. Trotz mehrerer Spaltungen und Hunderter Gefallener setzt die Partei bis heute unbeirrt ihren „Volkskrieg“ fort. Ihre Aktionen richten sich vornehmlich gegen Militärstützpunkte, aber auch gegen Staudammbaustellen in den Bergen der kurdisch-alevitischen Provinz Dersim. In den letzten Jahren führte die TIKKO auch gemeinsame Operationen mit der Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) durch. Im nordsyrischen Selbstverwaltungsgebiet Rojava kämpfen TIKKO-Partisanen heute an der Seite der kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ gegen den „Islamischen Staat“.

Spionagetätigkeit gegen Linke
oder Kurden ist gerichtsverwertbar

Die rund 250 Ordner umfassenden Ermittlungsakten wurden nach Angaben der Verteidigung größtenteils von türkischen Behörden bereitgestellt. Dass zahlreiche türkische Polizisten und Staatsanwälte, die vor wenigen Jahren noch führend bei den Ermittlungen gegen revolutionäre Linke tätig waren, heute als Mitglieder der Gülen-Bewegung selbst als „Terroristen“ gejagt und inhaftiert werden, ist für die Bundesregierung, „kein Anlass, an der Zuverlässigkeit der durch die türkischen Behörden übermittelten Erkenntnisse zu zweifeln“. Das erklärte die Bundesregierung im Oktober 2015 in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion. Im Januar 2017 wurde ein Dokument einer türkischen Polizeibehörde mit Daten zu in Deutschland lebenden TKP/ML-Mitgliedern als Beweismittel in den Münchner eingeführt, in dem unverblümt zugegeben wurde, dass es auf „geheimdienstlichen Informationen“ beruhe. Als der türkische Geheimdienstchef Hakan Fidan dem BND-Chef im Februar ein Dossier über Gülen-Anhänger in Deutschland übergab, tobte die Bundesregierung. Doch wenn sich solche Spionagetätigkeit gegen Linke oder Kurden richtet, ist sie sogar gerichtsverwertbar.

Gerichtsbeobachtungen nur mit
Vorlegung eines Ausweises 

Gerichtsverhandlungen müssen öffentlich sein. Doch wer sein Recht auf Beobachtung des TKP/ML-Prozesses wahrnehmen möchte, muss zuerst seinen Ausweis vorlegen. Offiziell dient das Scannen der Ausweise der Identifizierung von möglichen Störern. Doch viele, die gerne den Prozess besuchen würden, sehen sich abgeschreckt. Das Gericht versichert zwar, dass diese Daten am Ende jedes Prozesstages wieder gelöscht. Aber wer will da schon sichergehen? Schließlich haben die Ermittlungsbehörden bei Paragraph-129b-Ermittlungen zahlreiche Sondervollmachten. Auch das ganze Umfeld der vermeintlichen Terroristen wird ausgeleuchtet, ihre Kontakte landen ebenfalls in Extremismus- und Terrorismusdateien von BKA und Verfassungsschutz.
Ich werde trotz Vorlage meines Presseausweises in einer Kabine von einem Polizisten gründlicher gefilzt, als an jedem Flughafen. Mein gesamter Hosentascheninhalt wird einbehalten. Ich darf weder einen Stift noch ein einziges Blatt Papier mit auf die Besuchertribüne nehmen. Ich könnte ja mit Papierkügelchen werfen, lautet die Begründung der Polizeibeamten. Nicht einmal bei dem großen KCK-Verfahren gegen rund 150 kurdische Politikerinnen und Politiker in Diyarbakir habe ich eine solche Behandlung von Prozessbesuchern erlebt.

„Gefährliche Terroristen vor Gericht“

Auf der Besuchertribüne haben sich rund ein halbes Dutzend Freunde und Genossen der Angeklagten eingefunden. Die hinter ihnen stehenden Justizwachmeister unterhalten sich über die Bundestagswahl. Einer der Uniformierten beklagt sich, dass die Medien so schlecht über die AfD berichten würden. Unten gehen die Türen auf, hintereinander führen Polizisten die zehn Angeklagten in den Sitzungssaal. Auf der Tribüne stehen deren Genossen auf und applaudieren. Die Justizwachtmeister greifen nicht ein. Die Angeklagten grüßen mit der geballten Faust oder strecken die Finger zum Sieges-Zeichen.
Während der Verhandlung befinden sich rund 20 bewaffnete Polizisten und Justizwachtmeister im Gerichtssaal, diejenigen auf der Tribüne noch nicht mitgezählt. Ich weiß noch, wie schockiert wir von der Anwesenheit der Jandarma während der KCK-Verfahren in der Türkei waren. Aber hier vor der Münchner Staatsschutzkammer geht es nicht so viel anders zu. Auch durch das massive Polizeiaufgebot soll die Botschaft vermittelt werden, dass hier gefährliche Terroristen vor Gericht stehen.
In mehreren Prozesserklärungen haben die Angeklagten ihre revolutionäre Gesinnung verteidigt. Zur Sache – also der vorgeworfenen Organisationsmitgliedschaft in der TKP/ML – haben sie dagegen geschwiegen. So politisch, wie bei den Prozesserklärungen, geht es an den meisten Verhandlungstagen nicht zu.

Müslüm Elma,
22 Jahre in Haft in der Türkei

Diesmal wird Observationsbericht des Bundeskriminalamtes über einen Tag im Leben des 57-jährigen Hauptangeklagten Müslim Elma verlesen. In der Türkei verbrachte Elma, der sich bereits als Jugendlicher der revolutionären Bewegung angeschlossen hatte und kurz nach dem Militärputsch von 1980 in Diyarbakir verhaftet wurde, insgesamt 22 Jahre in Haft. Haft, Folter hatten zu irreversiblen Gesundheitsschäden geführt, so dass Elma 2002 aus gesundheitlichen Gründen freikam. Er floh nach Deutschland, wo er politisches Asyl erhielt und seine politische Arbeit im Rahmen der Föderation ATIK fortsetzte. Nach Ansicht der Generalbundesanwaltschaft ist Elma Mitglied der Parteiführung der TKP/ML und für die Sammlung von mehreren hunderttausend Euro Spenden jährlich verantwortlich.
Akribisch listet der verlesene BKA-Bericht auf, welche Döner-Imbisse Elma betrat, wann er eine Zigarette rauchte, und wo er seinen Wagen tankte. Auch die Hemdenfarbe und Haarschnitte „unbekannter männlicher Personen“, mit denen sich Elma unterhielt, wurden von den Fahndern notiert. Irgendwelche Straftaten, gar terroristischer Art, finden sich in dem Observationsbericht nicht. Doch nach der Logik des Paragraphen 129b wird jede noch so alltägliche und für sich genommen völlig legale Tätigkeit zur Terrorunterstützung, wenn sie nach Ansicht der Staatsanwaltschaft im Auftrag einer „Terrororganisation“ stattfindet.

Beweisanträge der Verteidigung abgelehnt

Die Verteidiger beklagen, dass der BKA-Beamte, der das Observationsprotokoll angefertigt hatte, darin auch Informationen verwendete, die er nicht aus eigener Anschauung gewonnen hatte. Zudem seien während der Verhandlung keine Originalbilder sondern nur Kopien vorgelegt worden. Sie beantragen, das an sich irrelevant erscheinende Beweismittel deswegen nicht zuzulassen. Immer wieder wird die Verhandlung aufgrund von solchen Anträgen der Verteidigung für fünf Minuten oder eine halbe Stunde unterbrochen, damit sich die Richter beraten können. Und immer wieder werden die Beweisanträge der Verteidigung abgelehnt. Das Verfahren kommt so nur mühsam voran. Genau das ist wohl die Intention hinter solchen nadelstichartigen Anträgen der Anwälte. Die Verteidigerinnen und Verteidiger wollen es mit ihrer Obstruktionstaktik dem Gericht möglichst schwer machen und den Preis für den Mammutprozess weiter in die Höhe treiben. Dem Staat soll es verleidet werden, nach einer absehbaren Verurteilung der zehn Angeklagten die nächsten Verhaftungen von Revolutionären vorzunehmen und weitere derartige Massenprozesse folgen zu lassen.
Juristisch wird bei dem Prozess kein Neuland betreten. Wie am Fließband wurden in den letzten Jahren bereits der PKK-Mitgliedschaft angeklagte kurdische Aktivisten sowie Unterstützer der linksradikalen DHKP/C nach dem Strafrechtsparagraphen 129b verurteilt. Bewiesen werden muss ja nicht eine individuelle Straftat, sondern nur eine Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation.

Nur in der Türkei verboten

Politisch handelt es sich dagegen bei dem Verfahren gegen die TKP/ML um einen Pilotprozess. Der Terrorparagraph 129b wurde seit seinem erstmaligen Einsatz gegen dschihadistische Terrorgruppen vor 15 Jahren auf immer weitere Felder ausgeweitet – auf nationale Befreiungsbewegungen wie die Tamil Tigers, auf linksradikale Gruppierungen wie die DHKP-C, schließlich auf eine millionenstarke Massenbewegung wie die PKK. Mit der TKP/ML wird der Paragraph 129b StGB erstmals gegen eine Organisation angewandt, die außer in der Türkei nirgendwo verboten ist und sich auch nicht auf der Terrorliste der EU findet.
Es geht den Herrschenden darum, den Paragraphen 129b zur universell einsetzbaren juristischen Waffe gegen jede beliebige revolutionäre Bewegung zu schärfen. In Rahmen präventiver Konterrevolution sollen so die weltweiten Interessen des deutschen Imperialismus gegen mögliche zukünftige Bedrohungen durch militante soziale Bewegungen abgesichert werden. Dass dem NATO-Partner Türkei mit diesem Verfahren zugleich ein Freundschaftsdienst erwiesen wird, ist ein nützlicher Nebeneffekt für die Bundesregierung. (Nick Brauns/YÖP)