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KARL MARX UND DER GEWERKSCHAFTLICHE KAMPF GEGEN DIE TEUERUNG

27. November 2022
Bereits in seinen 1865 in London gehaltenen Vorträgen „Lohn, Preis und Profit“ in Sondersitzungen der I. Internationale ein Jahr nach deren Gründung, widmete sich Marx der zentralen Frage des konsequenten gewerkschaftlichen Kampfes gegen die Inflation. Denn bereits seinerzeit gab es selbst in der Arbeiterbewegung verbreitete Strömungen, die die Ansicht einer prinzipiellen Erfolglosigkeit von Lohnkämpfen gegen die kapitalistische „Teuerung“ im Sinne einer angeblichen „Lohn-Preis-Spirale“ vertraten.

Da der gewerkschaftliche Kampf gegen die Hochinflation auch hierzulande mit neuer Wucht auf der Agenda steht, ja die vielfach auch als Zentralbank der Zentralbanken bezeichnete BIZ (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich) nach Jahrzehnten gesunkener und global moderater Inflationsraten der Welt gerade prognostizierte „an der Schwelle zu einer neuen inflationären Ära“ zu stehen, lohnt ein Blick in die Geschichte und theoretischen Auffassungen nur umso mehr. Und zugleich ein solidarisches Glück auf! an die EisenbahnerInnen und die Brauereibeschäftigten zu ihren Streikkämpfen diesen Montag!

Marx und Klassiker der politischen Ökonomie contra Lassalle und Proudhon

Unter den eingangs genannten Vertretern befanden sich zum einen die Anhänger Ferdinand Lassalles, der mit seinem erdachten „ehernen Lohngesetz“, demzufolge sich das Lohnniveau aufgrund ökonomischer Gesetze immerfort auf das Existenzniveau einpendle, den gewerkschaftlichen Kampf gegen die „Teuerung“ und für kräftige Reallohnerhöhungen als prinzipiell zum Scheitern verurteilt ansah. Die Löhne, so der Wortführer der frühen deutschen Arbeiterbewegung und Zeitgenosse von Marx und Engels, ließen sich im Kapitalismus niemals über das bloße Existenzminimum hinausheben. Entsprechend sinnlos hielt er daher auch die Bildung von Gewerkschaften und dementsprechend geringschätzig fiel auch sein Urteil über die Bedeutung von Arbeitskämpfen und Streiks aus. (Ganz entgegen Marx und Engels, für die sich, wie wir in Teil II zeigen werden, die Arbeiterklasse erst in ihrer Selbsttätigkeit als soziales Subjekt konstituieren und sich ihrer revolutionären Kraft bewusst werden kann.) „Koaliert euch nicht“, war dagegen das wüste Credo Lassalles an die Arbeitenden. Demgegenüber propagierte er als hauptsächlichen Weg zur Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft vielmehr die sogenannte „Staatshilfe“, die in erster Linie über das allgemeine und gleiche Wahlrecht und der Erringung einer parlamentarischen Mehrheit zu erwirken wäre.

In dieselbe Kerbe schlug seinerzeit auch der französische Sozialist und Lichtgestalt des Anarchismus, Pierre-Joseph Proudhon, dessen krude Theoretisierungen in gewissen gegenwärtigen Strömungen der Linken eine unvermutete, unterschwellige Renaissance erleben (was jedoch ein eigenes Thema wäre). „Jedes Steigen der Löhne kann keine andere Wirkung haben als ein Steigen der Preise des Getreides, des Weines etc.: die Wirkung einer Teuerung. Denn was ist der Lohn? Er ist der Kostenpreis des Getreides etc.; er ist der volle Preis jeder Sache … Es ist unmöglich, erkläre ich, dass Arbeitseinstellungen, die Lohnerhöhungen zur Folge haben [sprich: erfolgreiche Streiks, Anm.], nicht auf eine allgemeine Preissteigerung hinauslaufen: Das ist ebenso sicher, wie dass zweimal zwei vier ist.“ Marx, der schon an den Klassikern der politischen Ökonomie, namentlich David Ricardo rühmte, die Mär der sog. Lohn-Preis-Spiral als Unsinn abgetan zu haben, kommentierte für die in seinem Gefolge entstandene wissenschaftliche Theorietradition schon damals ebenso scharf wie ökonomisch fundiert: „Wir bestreiten alle diese Behauptungen, ausgenommen die, dass zwei mal zwei vier ist.“

„Es war das große Verdienst Ricardos“, lobte Marx, „dass er in seinem 1817 veröffentlichten Werk ‚On the Principles of Political Economy‘ den alten landläufigen und abgedroschenen Trugschluss, wonach der Arbeitslohn die Preise bestimmt, von Grund aus zunichte machte.“ Ein „Trugschluss“ freilich, wie die bereits von den Klassikern längst widerlegte, aber dennoch schier unzerstörbare Mär der „Lohn-Preis-Spirale“, die in unterschiedlichen Varianten gleichwohl nach wie vor ihr Unwesen treiben.

Marxens Vortrag, in welchem, wie er in einem Brief an Engels schrieb, in „verhältnismäßig populärer Form viel Neues aus meinem Buch vorweggenommen ist“ – gemeint war der zwei Jahre darauf, 1867, erschiene 1. Band des „Kapitals“ – erschien dann allerdings erst 1898 als englischsprachige Schrift „Value, Price and Profit“, bevor das veröffentlichte Referat auch in Deutsch unter dem Titel „Lohn, Preis und Profit“ Karriere in der ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung machte.

Ökonomische Mär und hapernde Logik

Jenseits des ökonomischen Unsinns und der desaströsen politischen Implikationen hapert es bei Lassalles und Proudhon Ansicht auch etwas an der Logik. Wenn Unternehmen (zumal unter seinerzeitigen, noch vormonopolistischen Konkurrenzverhältnissen und der beginnenden Gegenmacht der Arbeitenden) über eine solch geradezu uneingeschränkte und jederzeitige Preissetzungsmacht ihre Abgabepreise verfügen, wie von Lassalle und Proudhon mehr oder minder impliziert, warum sollten sie (außer natürlich die zur Rechtfertigung unpopulärer stärkerer Preissteigerungen willkommene Gelegenheit von Lohnerhöhungen zur Rechtfertigung zu nutzen) dann überhaupt auf Lohnerhöhungen „warten“ um die Preise anzuheben – und diese nicht auch abseits dieses Anlasses fortwährend kräftig erhöhen? Nur um ihre Preiserhöhungen dem Publikum dann mit einem Lehrbuch-Theorem begründen zu können? Abstrus. Nun heben die Unternehmen die Preise in der Tat durch das gesamte Jahr über an, währen die Lohnerhöhungen jeweils erst und nur einmal jährlich zu den KV-Runden zur Verhandlung stehen. Aber das Resultat einer konkurrenz- und kräfteverhältnislosen Preissetzungsmacht wäre freilich eine allgegenwärtig permanente Hochinflation, die (auch aufgrund von hier zurückgestellt bleiben müssenden Sonderfaktoren) zumal noch in den letzten Dekaden, aber auch geschichtlich, gerade in dieser Form nicht der Fall war, ja die EZB in den letzten Jahren gegenteilig teils sogar mit deflationären Befürchtungen ringen ließ. Zudem wäre, Lassalle und Proudhon folgend, auch unverständlich, warum sich die Unternehmen den gewerkschaftlichen Lohnforderungen überhaupt so hartnäckig widersetzen, wenn sie diese ohnedies quasi mechanisch durch einen Preisaufschlag überwälzen können, ja in der Logik des Lohn-Preis-Spiralen-Unsinns sogar noch jedes Mal satt dazugewinnen würden, wie wir gleich sehen werden.

Denn auch bei der „Lohn-Preis-Spirale“ im eigentlichen Sinn holpert es mit der Logik gewaltig. Selbst der verbohrteste Unternehmer würde nicht bestreiten, dass – um in dessen Sprache zu bleiben – seine Lohnkosten natürlich nur einen bestimmten Anteil an den Gesamtkosten bilden oder ausmachen. Lohnerhöhungen dürften damit aber selbst in einer mechanisch vorgestellten, zwangsläufigen Überwälzung auf die Preise nur zu unterproportionalen Preisaufschlägen- bzw. Steigerungen führen. Angenommen der Preis einer Ware X belief sich bislang auf 100 Euro und der Anteil der Lohnkosten an ihrem Preis beträgt 20%. Dann beliefe sich eine 10%ige Lohnerhöhung auf 2 Euro. Selbst wenn diese 1:1 weitergegeben würde, stiege der Preis der Ware X nicht einfach um den Faktor der Lohnerhöhung auf 110 Euro, sondern würde zu einer Preiserhöhung auf 102 Euro oder etwas über 2% führen. Weshalb der Preis der Ware X überhaupt angeblich proportional zur Lohnerhöhung steigen sollte, bleibt ein Geheimnis der bürgerlichen ÖkonomenInnenzunft. Und das gilt fortgesetzt auch für die von den moderneren VertreterInnen der Lohn-Preis-Spirale bei einem allgemeinen Lohnanstieg mithereingenommenen entsprechenden Verteuerung der Vorprodukte und Arbeitsmittel. Ein nicht minderes Geheimnis der herrschenden Wirtschaftslehre ist übrigens auch, weshalb sich Unternehmer in ihren Preisgestaltungen an die Lehrbuchweisheit solcher zum ABC der Wirtschaftslehre erhobenen Standardformeln á la Paul A. Samuelson halten sollten? Ökonomie-Nobelpreis hin oder her.

Die historische Debatte des Generalrats der I. Internationale zur essentiellen Frage des Kampfes der ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung gegen die Inflation

Ein Kontrahent in der mehrwöchigen Diskussion des Sommers 1865 war übrigens der Owenist John Weston, ein englischer Arbeiter und Mitbegründer der I. Internationale, der (wie viele andere) erst im Anschluss an seinen 12-stündigen Arbeitstag an den Debatten des Generalrats teilnehmen konnte. Weshalb Marxens Vorträge zu dieser essentiellen Frage unter Mitgliedern des Generalrats, Gewerkschaftsführern und Arbeitern auch erst um 21.00 Uhr begannen. Dies mindestens als Schlaglicht auf damaligen Bedingungen. Marx zollte John Weston denn auch zu Beginn seines ersten Vortrags seine aufrichtige Hochachtung, ohne in der Sache die nötige Vehemenz vermissen zu lassen.

Auch Weston vertrat nämlich, sich auf das „eherne Lohngesetz“ berufend, die Auffassung, dass Lohnerhöhungen nur ein erhöhtes Preisniveau, namentlich bei Lebensmitteln, nach sich ziehen würden. Sich also Preise und Löhne wie Löhne und Preise nur quasi naturgesetzlich in einem nie endenden Prozess gegenseitig nach oben schaukeln oder drücken würden, weshalb der gewerkschaftliche Kampf schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt sei, zumindest aber eine prinzipielle Erfolglosigkeit von Lohnkämpfen ausgemacht sei.

Marx argumentierte (im Unterschied zu obig angezogenen Ausführungen) noch viel grundsätzlicher auf eminent werttheoretischer Basis gegen diesen, sich bis heute unter der Formel einer „Lohn-Preis-Spirale“ gegen den entschiedenen Klassenkampf gegen Inflation haltenden Bestandteil der herrschenden Wirtschaftslehre – der bis in Gewerkschaftskreise wirkt, ja in sublimeren bzw. verfeinerten Varianten als der grobschlächtigen Samuelson’schen Standardformel selbst unter links-affinen ÖkonomInnen geteilt wird. Zu Recht notierten Ansgar Knolle-Grothusen et al. denn jüngst auch aus kritisch ökonomischer Sicht: „Die These von der Lohn-Preis-Spirale gehört zu den am wenigsten reflektierten Vorstellungen zeitgenössischer Ökonomen und Politiker, vertreten von den Wirtschaftswissenschaftlern der Europäischen Zentralbank bis hin zu denen der Regierungen, der Wirtschaftsforschungsinstitute und der Wirtschaftsmedien.“ Und darüber hinaus.

Gewerkschaftliche Perspektiven auf Marx

Ein konsequenter, einzig den Arbeits- und Lebensinteressen der Werktätigen verpflichteter Kampf gegen die Inflation, ist denn erfolgreich auch nur als zugleich ökonomischer wie ideologischer Klassenkampf führbar. Denn die Härte des Lohnstreits resultiert, wie Marx in „Lohn, Preis und Profit“ zeigt, aus dem Widerspruchsverhältnis der Lohnrate zur Profitrate, deren Rückgang das Kapital mit aller Macht zu verhindern trachtet. Das Lohnsteigerungen indes zwingend einen Anstieg der Preise nach sich ziehen müssten, zumal in einer produktivitätsbedingt wachsenden Wirtschaft, ist hingegen schlicht Humbug. Zum einen funktioniert der Kapitalismus, wie auch die Geschichte zeigt, durchaus mit unterschiedlichen Einkommensverteilungen (Profitquoten zu Lohnquoten). Zum anderen sind in einer produktivitätsbedingt wachsenden Wirtschaft, rein ökonomisch, kräftig steigende Löhne sogar „vereinbar mit konstanten oder steigenden Gewinnen“. Mehr noch, wie Klaus Müller gegen eine verkürzte Politische Ökonomie in mehreren Arbeiten weiter auswies: Selbst „ein steigender Wert der Ware Arbeitskraft [zum Unterschied steigender Reallöhne, in welchen sich die Menge kaufbarer Güter ausdrücken, Anm.] führt nicht zwangsläufig dazu, dass die Mehrwertrate sinkt“.

Ohne gewerkschaftlichen Kampf – den „unvermeidlichen Kleinkrieg“ „gegen die Gewalttaten des Kapitals“ und „die Marktschwankungen“ – so Marxens politisches Resümee seines Vortrags, würden die Arbeitenden indessen schnell „degradiert“ zu einer „Masse ruinierter armer Teufel“. Entsprechend ist der Lohnkampf für Marx auch vor allem eine Frage der gesellschaftlichen und Klassen-Kräfteverhältnisse, der Konfliktbereitschaft der Arbeitenden und Gewerkschaften und ihrer Kampfformen. „Sicher ist es der Wille des Kapitalisten“, so Marx weiter, Lohnsteigerungen durch Preisaufschläge weiter- oder überzuwälzen. Aber: „Uns kommt es darauf an, nicht über seinen Willen zu fabeln, sondern seine Macht zu untersuchen, die Schranken dieser Macht und den Charakter dieser Schranken.“ Und in diese fließen nicht zuletzt die „Kräfteverhältnisse der Kämpfenden“ ein. In alledem scheint auch bereits der Zusammenhang zwischen dem – im damaligen Sprachgebrauch – unabdingbaren „Kleinkrieg“ und einer weitergehenden Perspektive auf (dem wir im zweiten Teil näher nachspüren): „Würden sie [die Arbeitenden, Anm.] in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen“.