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»Brüssel muss den Botschafter einbestellen«

Menschen, die beim türkischen Verfassungsreferendum mit Nein ­stimmen wollen, werden bedroht – auch mitten in Europa. Gespräch mit Yavuz Fersoglu (Pressesprecher des Demokratischen Gesellschaftszentrums der KurdInnen in Deutschland Nav-Dem)

AKP-Terror gegen Wähler, die beim Referendum in der Türkei mit Nein zu Erdogans Verfassung stimmen könnten: Ein Mann sei in ein Lokal spaziert, habe »Wer will mit Nein abstimmen?« gerufen und den ersten, der was sagen wollte, erschossen, berichtete die Zeitung Cumhuriyet am Freitag. Auf europäischem Boden, in Belgiens Hauptstadt Brüssel, gab es tags zuvor einen Angriff. Was war da los?

Eine Gruppe kurdischer Menschen, die dort im türkischen Konsulat am Donnerstag zur Wahl gehen wollten, wurde vor dem Gebäude attackiert. Eine 60jährige Frau erlitt eine schwere Verletzung mit einem Messerstich am Hals, drei weitere Menschen wurden verletzt. Die AKP stellt ungeheuerliche Dreistigkeit unter Beweis. Die enge Zusammenarbeit zwischen Gewalttätern und staatlichen Institutionen lässt sich daran ermessen, dass einer der Angreifer ins Konsulat flüchtete. Später hat ihn die Polizei festgenommen, Mittäter haben offenbar flüchten können. Einer wurde bei anschließenden Auseinandersetzungen verletzt, liegt im Krankenhaus. Der von Ihnen erwähnte Vorfall in der Türkei ist nicht der einzige. Auf Menschen, die laut »Nein« sagen oder die entsprechende öffentliche »Hayir«-Kampagne bewerben, finden Übergriffe von Polizisten statt, oder sie werden willkürlich festgenommen.

Bei Protesten am Donnerstag abend gegen die Gewalt der Erdogan-Anhänger in Brüssel kam es zu Auseinandersetzungen.

Was der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Anhänger lange ankündigten, hat eine neue Dimension erreicht. Eine mit Stöcken und Messern bewaffnete Horde ging auf die Demonstranten vor dem türkischen Konsulat los, als sie sich gerade auf den Nachhauseweg machen wollten. Kürzlich hatte Erdogan Europäern gedroht, nirgendwo auf der Welt mehr sicher einen Fuß auf die Straße setzen zu können.

Die türkische Regierung veranstalte eine regelrechte Hetzjagd auf Neinsager, heißt es in eine Pressemitteilung von Nav-Dem – auch in Deutschland?

Die AKP macht hierzulande ständig aggressive Propaganda. Aufgehetzte Erdogan-Anhänger machen sich daraufhin, etwa von Moscheen aus, mit Autokorsos oder in Bussen zu türkischen Konsulaten auf den Weg. In Hamburg mussten Aktivisten an Infoständen der Hayir-Kampagne wegen zu befürchtender Angriffe mehrfach die Polizei rufen. Wer öffentlich zum »Nein« aufruft, wird im Internet beschimpft und bedroht. Erdogan ist mit Geheimdienstagenten des MIT, den sogenannten Grauen Wölfen und Moscheen in Deutschland gut organisiert. Wenn Erdogan jetzt keine Grenzen gezeigt bekommt, wird er seinen Krieg weiter auf europäische Straßen tragen.

Ist zu befürchten, dass in Deutschland lebende türkische Staatsbürger sich vielfach nicht mehr trauen, mit Nein zu stimmen, zumal die Wahllokale in türkischen Konsulaten sind?

Das ist ein weiterer Skandal. Weil türkische Konsulate in Deutschland wie Zentralen der AKP arbeiten, haben viele Menschen berechtigte Angst. Letzteres war kürzlich beim Auftritt des türkischen Außenministers in Hamburg zu beobachten. Da er keine Räumlichkeiten in der Stadt gefunden hatte, instrumentalisierte er das Gästehaus des türkischen Konsulats, was nach türkischem Recht nicht möglich ist: Eine Partei darf keine Wahlpropaganda in staatlichen Institutionen betreiben – im Ausland schon gar nicht. All das interessiert aber Erdogans AKP nicht. Sie will ihr Präsidialsystem um jeden Preis etablieren. Wir appellieren trotzdem an die Menschen, der AKP klare Kante zu zeigen. Es gilt, der Türkei auf dem Weg zur Diktatur Einhalt zu gebieten.

Wie kann die EU die Wahlfreiheit gewährleisten?

Brüssel muss unverzüglich den Botschafter der Türkei einbestellen. Die Bundesregierung muss türkische Geheimdiensttätigkeiten und den Einfluss der AKP auf Moscheen hierzulande unterbinden. Sie muss Sorge tragen, dass türkische Konsulate hierzulande für Wählerinnen und Wähler sicher sind. Sie sollte der AKP-Regierung verdeutlichen, dass die Wahlen hier eingestellt werden, sollte etwas Ähnliches wie in Belgien in Deutschland vorkommen. Mindeststandards an freie Wahlen müssen in der Türkei und auch in Europa eingehalten werden. (Interview: Gitta Düperthal/JW)