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Vor der Invasion – Türkei plant Offensive gegen nordsyrischen Kanton Afrin

Mit markigen Sprüchen schwört der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sein Land derzeit auf einen nach seinen Worten jederzeit möglichen Großangriff auf den kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrin im Nordwesten Syriens ein. Seit Tagen beschießt die an der Grenze aufgefahrene türkische Armee Dörfer in Syrien mit Artillerie, selbst das Zentrum von Afrin-Stadt wurde von Granaten getroffen.

Die Bevölkerung des Kantons ist durch Flüchtlinge aus anderen Landesteilen von ursprünglich 400.000 Bewohnern auf bis zu einer Million angewachsen. Das Gebiet grenzt größtenteils an die Türkei. Im Osten und Südwesten befinden sich syrische Gebiete, die von türkischen Besatzungstruppen und dschihadistischen Kampfverbänden kontrolliert werden. Der einzige Nachschubweg verläuft über eine von syrischen Regierungstruppen gehaltene Straße in das 60 Kilometer entfernte Aleppo. Afrin ist eine traditionelle Hochburg der linken kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) – für Ankara reicht das aus, um Afrin ein »Terrornest« zu nennen.

Unter türkischen Nationalisten herrscht Kriegseuphorie. So bildeten sich am Dienstag vor einem Rekrutierungsbüro der Streitkräfte im Istanbuler Stadtteil Üsküdar Schlangen von Wartenden, die sich zum Armeedienst anmelden wollten. Äußerungen im Internet lassen den Eindruck entstehen, die Türkei ziehe direkt gegen die USA in den Krieg. Zuvor hatte der Sprecher der US-geführten Koalition gegen die Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS), Ryan Dillon, den Aufbau einer Grenzschutztruppe unter Einschluss der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Nordsyrien angekündigt, Erdogan bezeichnete das als Kriegsgrund und drohte, »diese Terrorarmee zu ertränken, bevor sie aus der Taufe gehoben wird«.

In Afrin befindet sich allerdings kein einziger US-Soldat. Statt dessen hat die russische Armee dort einen Beobachtungsposten errichtet, russische Militärpolizisten fahren zum Teil gemeinsam mit den YPG Patrouille. Afrin falle nicht in das Operationsgebiet der Anti-IS-Koalition, wies Koalitionssprecher Dillon am Dienstag gegenüber der regierungsnahen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu eine Schutzverantwortung der USA für den Kanton zurück. Die YPG in Afrin würden nicht als Teil des Anti-IS-Kampfes betrachtet oder unterstützt, bekräftigte auch Pentagon-Sprecher Adrian Rankine-Galloway gegenüber Anadolu.

Ferhad Patiev, ein Repräsentant der Demokratischen Föderation Nordsyrien in Moskau, erklärte gegenüber dem Internetportal The Region, dass Ankara die Unterstützung von zumindest einem der zwei großen »Spieler« in Syrien brauche. »Wenn Russland nein sagt, aber die USA ja sagen, wäre das ausreichend, um einen Krieg zu beginnen. Es ist unmöglich, die Rolle der USA hier kleinzureden.«

Allerdings erscheint zumindest ein massiver türkischer Luftschlag gegen YPG-Ziele, wie ihn türkische Medien unter Berufung auf Militärquellen zu Wochenbeginn ankündigten, ohne grünes Licht aus Moskau nicht denkbar. Unwahrscheinlich ist indes, dass Russland die nach dem Abschuss eines Kampfflugzeuges durch die türkische Luftwaffe Ende 2015 verfügte Luftraumsperrung über Nordsyrien aufhebt. Die russische und syrische Luftwaffe fliegt derzeit selbst Angriffe auf Stellungen der von der Türkei unterstützten dschihadistischen »Front zur Eroberung der Levante« (Dschabha Fatah Al-Scham) in der syrischen Provinz Idlib.

Eine reine Bodenoperation wäre für die Türkei allerdings riskant. Weite Teile des gebirgigen Umlands um Afrin-Stadt sind von den YPG zu regelrechten Festungen ausgebaut worden. Als Kanonenfutter soll hier eine unter türkischer Führung aus Resten der »Freien Syrischen Armee« (FSA), turkmenischen Brigaden sowie ehemaligen IS- und Al-Qaida-Kämpfern gebildete Söldnertruppe namens »Syrisches Nationales Heer« dienen, deren Kämpfer in den von der Türkei besetzten Gebieten in Idlib und um die Grenzstadt Dscharabulus stationiert sind.

Ein Angriff auf Afrin werde zu einem großen Krieg führen, der sich auf alle Teile Kurdistans und des Mittleren Ostens auswirken werde, warnte YPG-Sprecher Sipan Hemo am Dienstag. Erdogan habe »offenkundig psychische Probleme und ist zu einer Plage für die gesamte Region geworden«, erklärte er. »Es scheint unser Schicksal zu sein, dass wir die Region auch von dieser Plage befreien müssen.« (Nick Brauns – Junge Welt)